Medien im Ausnahmezustand

Germanwings-Absturz und die Folgen

Titelgrafik "Germanwings und die Folgen"

Selten ist die Medienberichterstattung so sehr in die öffentliche Kritik geraten wie nach dem Absturz des Germanwings-Airbus am 24. März 2015 in Südfrankreich. Die Medien überschlugen sich damals mit Spekulationen, viele Angehörige der Opfer fühlten sich bedrängt. Sieben Monate nach dem tragischen Ereignis haben am 15. Oktober Journalisten, Medienexperten und ein ehemaliger Mitschüler der 16 ums Leben gekommenen Gymnasiasten aus Haltern analysiert, wie Medien eine teilweise dramatische Berichterstattung inszenierten.


Eingeladen nach Düsseldorf hatten das Grimme-Institut, der Deutsche Presserat und die Deutsche Journalisten Union (dju in ver.di NRW). Die LfM unterstützte die Veranstaltung mit dem Titel „Germanwings-Absturz und die Folgen – Was lernen wir daraus?“. Mehr als hundert Besucher der Podiumsdiskussionen erlebten eine Rückschau der Ereignisse, die zeigte, mit welchem Druck Ende März Medien versucht hatten, Neuigkeiten zu veröffentlichen. Tagungsmoderator Steffen Grimberg (Grimme-Institut) erinnerte an den Tag, „als die Medien in Haltern einfielen“, und hinterfragte, ob es in vielen Redaktionen nicht an Besonnenheit gefehlt habe. „Journalisten hechelten im Minutentakt jeder noch so kleinen Information hinterher“, kritisierte Udo Milbret vom dju-Landesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di den „Medien-Hype“.


Mika Baumeister, ehemaliger Schüler des Halterner Joseph-König-Gymnasiums, urteilte, einige Journalisten hätten jegliches Gefühl für die Trauer der Angehörigen vermissen lassen. Zu den 150 Opfern des tödlichen Germanwings-Fluges 4U9524 gehörten auch 14 Schülerinnen und zwei Schüler der 10. Klasse sowie zwei Lehrerinnen des Gymnasiums. Deshalb habe in Haltern Ende März ein medialer Ausnahmezustand geherrscht, berichtete Baumeister. Dabei hätten es einige Journalisten an Respekt und Pietät den Angehörigen der Toten gegenüber vermissen lassen: etwa wenn Fotos von trauernden Familienmitgliedern und Freunden ohne deren Einverständnis veröffentlicht wurden. Außerdem seien vor der Schule Flatterband-Absperrungen missachtet, Angehörige bedrängt oder Schülern Geldsummen für das Beschaffen von Fotos aus der Schule geboten worden.


Petra Tabeling, Koordinatorin des Dart Centers für Trauma und Journalismus in Deutschland, Schweiz und Österreich, wies darauf hin, es mache keinen Sinn, nach Unglücken oder Katastrophen Opfer oder deren Angehörige zu befragen. „Akut belastete Personen oder Traumatisierte geben keine relevanten Informationen“, betonte die freie Journalistin und Spezialistin für den medialen Umgang mit Tragödien. Darüber hinaus könne bereits die Journalisten-Frage „Wie geht es ihnen?“ bei Angehörigen oder Opfern eine Retraumatisierung verursachen, erklärte Tabeling. Oliver Auster, der die Gesamtverantwortung für alle Ausgaben der Bild-Zeitung in Nordrhein-Westfalen hat, betonte, es gebe aber auch viele Betroffene, die mit Journalisten reden wollten, um das Erlebte zu verarbeiten.


Auster verteidigte sich gegen Kritik an der Berichterstattung seiner Zeitung mit dem Hinweis auf das öffentliche Interesse. Wie groß dieses gewesen sei, hätten Auflagen und Online-Reichweiten gezeigt, die „massivst gestiegen“ seien. Nachdem die französische Staatsanwaltschaft den Namen des vermutlich für den Absturz verantwortlichen Co-Piloten genannt hatte, war der Name von vielen Medien veröffentlicht worden. Außerdem erschienen Fotos des Mannes. „Der Name war auf dem Markt“, rechtfertigte Auster dieses Vorgehen. Außerdem habe es sich bei dem Co-Piloten um eine zeitgeschichtliche Person gehandelt, die für das „größte Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte“ verantwortlich gewesen sei.


Matthias Wiemer, Mitglied des Deutschen Presserates, sagte, auch im Presserat habe schnell Konsens geherrscht, dass wegen des „überwiegenden öffentlichen Interesses“ Name und unverpixelte Fotos des Co-Piloten hätten veröffentlicht werden dürfen. Dennoch gebe es auch gute Argumente gegen eine „identifizierende Berichterstattung“. Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserates, verwies auf eine Reihe von Missbilligungen und Hinweisen, die das Selbstkontrollorgan der deutschen Presse gegen einige Zeitungen ausgesprochen habe, in denen Fotos von Angehörigen oder des Hauses der Eltern des Co-Piloten erschienen waren. Gegen die Bild-Zeitung und deren Online-Angebot wurde eine Rüge ausgesprochen, weil mehrfach Bilder und Namen von Opfern veröffentlicht worden waren. Die Rheinische Post erhielt eine Rüge des Presserates, nachdem sie online über das Privatleben der Freundin des Co-Piloten berichtet hatte.


Beim Deutschen Presserat gingen im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Absturz des Germanwings-Flugzeuges insgesamt 431 Beschwerden ein. Die allermeisten davon seien „durchaus ernsthaft“ gewesen, unterstrich Presserat-Geschäftsführer Tillmanns. Gegenstand der Beschwerden war nicht nur der mediale Umgang mit den Opfern und deren Angehörigen, sondern auch die Art, in der Medien tagelang über die Unglücksursache spekuliert hatten. n-tv-Geschäftsführer Hans Demmel zeigte sich mit solcher Kritik nicht einverstanden. Spekulationen seien zulässig, wenn sie als solche thematisiert würden, betonte er mit dem Hinweis, TV-Nachrichtensender seien gezwungen, ständig etwas Neues zu berichten, wenn unfassbare Ereignisse wie der Flugzeug-Absturz in Südfrankreich geschähen. Dann sei es die Pflicht der Redaktion, „beim Verständnis dieser Vorfälle zu helfen“.


Die Medienkritik, die „teilweise hysterische Züge“ angenommen habe, könne er nicht nachvollziehen, sagte Demmel. Lokalredakteur Wiemer (Lübecker Nachrichten), der als Vorsitzender einen der drei Beschwerdeausschüsse des Presserates leitet, mahnte, das Tempo, mit dem viele Medien arbeiteten, sei zu hoch. Social Media löse oft eine Selbsterregungsspirale aus. Dann würden Kollegen „auf Themen gehetzt, die viele Klicks erzeugen sollen“. Bild-Redaktionsleiter Auster bezeichnete das, was in den sozialen Online-Netzwerken veröffentlicht wird, als „krass“ und bekannte, beim Germanwings-Absturz die Social-Media-Erregungskurve „unterschätzt“ zu haben. Dort habe es „unfassbar viele Falschinformationen“ gegeben. 


Während Auster erwähnte, dass internationale Medien wie etwa die Daily Mail keinerlei Scheu im Umgang mit Fotos von Opfern und Angehörigen gehabt hätten, warnte Presserat-Mitglied Wiemer, die Regel dürfe nie lauten: „Weil es andere machen, ist es richtig.“ Grundsätzlich habe jede Redaktion eine eigene Verantwortung. Kontrovers diskutiert wurde auch die Rolle der Experten, die bei vielen TV-Sendungen die Lücken füllen sollten, die an den ersten beiden Tagen nach dem Absturz durch mangelnde Videobilder entstanden. Heinz-Joachim Schöttes, der die Unternehmenskommunikation von Germanwings leitet, urteilte, vermeintliche Experten hätten „wild in alle Richtungen spekuliert“. Da seien durchaus Grenzen übertreten worden. Prof. Dr. Rolf Parr, Medienwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, merkte in diesem Zusammenhang kritisch an, oft hätten Experten mehrere Szenarien angeboten, seien dann aber von Journalisten gedrängt worden, sich auf eine Variante festzulegen.


Welche Erfahrungen die Lokalredaktion der Halterner Zeitung mit dem Medienandrang in der westfälischen Kleinstadt machen musste, beschrieb Benjamin Glöckner. Der Lokalredakteur schilderte, zwei Stunden nach Bekanntwerden der Tatsache, dass Halterner Schüler betroffen waren, hätten in der Redaktion unablässig die Telefone geklingelt. Aus Respekt vor den Opfern und Angehörigen habe das Lokalblatt keine Kontakte zu den trauernden Familien gesucht. Er wisse zwar, dass fremde Reporter Kindern Geld für Fotos aus der Schule geboten hätten, berichtete Glöckner. Der Anteil solch „schwarzer Schafe“ unter den Journalisten sei aber gering. „95 Prozent der Kollegen haben einfach ihren Job gemacht“, bilanzierte der Lokaljournalist. Anlass, den Pressekodex strenger zu formulieren, sehe er nicht.


Presserat-Geschäftsführer Tillmanns erläuterte, von den 16 Grundsätzen des Pressekodex hätten vor allem der Schutz der Persönlichkeit (Ziffer 8) und der Verzicht auf Sensationsberichterstattung (Ziffer 11) eine Rolle bei den medienethischen Debatten nach dem Absturz der Germanwings-Maschine gespielt. Von den 431 Beschwerden beim Deutschen Presserat seien schließlich 360 geprüft worden. Insgesamt hätten die Beschwerdeausschüsse schließlich zwei Rügen, sieben Missbilligungen und neun Hinweise ausgesprochen. Holger Girbig, der bei der Landesanstalt für Medien Nordrein-Westfalen (LfM) den Bereich Regulierung leitet, berichtete, bei der LfM seien nach der Berichterstattung über den Germanwings-Absturz 15 Beschwerden eingegangen. Zehn davon seien „furchtbar unspezifisch“ gewesen und nur drei hätten sich auf TV-Programme bezogen, für deren Aufsicht die LfM zuständig sei.


Girbig teilte mit, alle drei Anfragen seien „mit Bezug auf den Pressekodex“ beantwortet worden. Diese Aussage zeige, dass die publizistischen Grundsätze des Presserates auch außerhalb des Print-Bereiches zum Einsatz kämen, folgerte Tillmanns. Umso wichtiger sei es, dass für den journalistischen Bereich künftig „gemeinsame Regeln“ zum Einsatz kommen müssten – und nicht weiterhin unterschiedliche Bestimmungen für öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Rundfunk sowie Printmedien. „Mir reicht eine Aufsichtsinstanz. Ich will keine zusätzliche Regulierungsbehörde“, wandte sich n-tv-Geschäftsführer Demmel gegen Pläne, eine medienübergreifende Regelung zu schaffen. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, die RTL Group habe einen eigenen Kodex, der „eng an den Pressekodex angelehnt“ sei.

LfM-Vertreter Girbig merkte an, für den Rundfunk existiere – anders als für Zeitungen und Zeitschriften – ohnehin schon eine Reihe gesetzlicher Regeln: „In den Gesetzen stehen viel mehr Dinge als im Pressekodex.“ Im Rahmen entsprechender Aufsichtsverfahren könne es zu Beanstandungen und auch Bußgeldern kommen. Dass die Zahl der Beschwerden bei Landesmedienanstalten geringer sei als beim Presserat, liege daran, dass die Landesmedienanstalten weniger bekannt seien.


Am Ende der Diskussionsveranstaltung sprachen sich alle Teilnehmer für mehr Besonnenheit und ein konstantes Hinterfragen medienethischer Nomen aus. Medienwissenschaftler Parr schlug außerdem vor, dass die (Selbst-)Regulierungsinstanzen im Hinblick auf die definitorischen Fragen und den Maßnahmenkatalog ihre Maßstäbe und Begrifflichkeiten angleichen könnten.


Dr. Matthias Kurp